Eine Bekannte von mir, für die ich schon mehrere Artikel
geschrieben habe, die auf meiner Homepage veröffentlicht wurden,
hat mich Ende April gebeten, eine Argumentationshilfe für jemand
zu schreiben, der sie bei einem traurigen Problem unterstützen
will. Sie studiert in Österreich, ist blind und will Lehrerin
werden. Genau das will man ihr verweigern. Und als Begründung
muss natürlich wieder herhalten, dass sie als blinde Frau nicht
die Aufsicht über eine Klasse und somit nicht die Verantwortung
für ihre Schüler übernehmen könne.
So habe ich am 26. April 2005 spontan den folgenden
Text verfasst, den ich jetzt nur in Bezug auf Rechtschreib- und
sprachliche Fehler überarbeitet habe:
Liebe ...,
das Problem, dass man uns blinden Menschen mit dem
Gerede von "Aufsicht", die wir nicht führen und
"Verantwortung", die wir nicht übernehmen könnten,
Steine in den Weg legt, ist
uralt. Tausendfach ist das Gegenteil bewiesen
worden; aber in manche Köpfe dringt die Realität nicht so
leicht ein - weil viele Menschen sich nicht bewusst
machen, wann sie von Vorurteilen gesteuert werden
und weil sie sich nicht eingestehen wollen, dass sie auch Behinderte
als gleichwertig ansehen müssen.
Sie fühlen sich uns überlegen, weil sie
eben die Behinderung, mit der wir leben, nicht haben. Und obwohl wir
seit Jahrzehnten aus eigener Erfahrung besser
wissen, was ein blinder Mensch kann und was nicht,
maßen sie sich an, auf diesem Gebiet größere Experten
zu sein als wir selbst.
Wie du weist, habe ich selbst als
Diplompädagoge häufig in Situationen gearbeitet, wo ich
Aufsicht und Verantwortung übernehmen musste. Und ich darf
mit
Freuden feststellen, dass ich da nie Probleme
hatte; das heißt: Weder ist jemals etwas passiert, noch hat man
mir eine Aufgabe nicht gegeben, weil man
mir die Aufsicht und die Verantwortung nicht
zugetraut hätte.
Eines der Probleme, mit denen wir uns herumschlagen
müssen, ist dieses: Der blinde Mensch wird immer mit dem
schlechtesten Sehenden verglichen. Ging bei
einem Sehenden mal etwas daneben, meint man, ein
Blinder, egal wie qualifiziert und geschickt er auch sein mag,
könne das auch nicht. - Nie würde man
übrigens
den Umkehrschluss machen: Ein Sehender hat etwas
nicht gekonnt, also können alle Sehenden das nicht.
Das bringt mich zum zweiten Punkt: Von einem
Blinden wird auf alle geschlossen. Wenn einem Blinden etwas nicht
gelungen ist, gehen Menschen, die nicht über
ihre Vorurteile nachdenken können oder wollen,
gleich davon aus, dass andere Blinde den gleichen Misserfolg
hätten. Dass dies Unsinn ist, sollte jeder
Mensch merken, der mal anfängt, ernsthaft
über diese Dinge nachzudenken. Behinderte Menschen sind in ihren
Fähigkeiten schließlich genauso divers wie
nicht-behinderte
Menschen auch.
Ich würde hier gerne einen Exkurs machen und
fragen, welcher Mensch wirklich "nicht behindert" ist. Aber
das würde zu weit führen. Auf jeden Fall halte
ich Menschen, die nicht bereit sind, ihre
Vorurteile, die sich in der Gesellschaft über Jahrtausende
entwickelt haben und inzwischen nicht mehr gültig
sein sollten, zu überdenken, für
"stark eingeschränkt"!
Wir hören oft die Zahl, dass der Mensch 86 %
aller Informationen über das Auge aufnimmt. Neulich habe ich
sogar eine Zahl gehört, die von über 90 %
ausgeht,
aber die kam genau aus der Ecke, die sich gut dabei
fühlt, behinderte Menschen als unfähig anzusehen. Was diese
Menschen übersehen ist, dass die meisten
dieser Informationen auch anders aufgenommen werden
können. Dem Sehenden mag es genügen, ein Auto zu sehen. Ich
höre es - und ich höre es oft schon, wenn
es dem Blick noch entzogen ist, weil es hinter mir
aus einer Nebenstraße kommt.
Die Stärke des Gehörsinns ist ja gerade,
dass er auch um Ecken und durch Wände funktionieren kann, also in
Situationen, wo das Auge nicht hilft. Joachim
Ernst Behrendt hat sehr schöne CDs zum Thema
"Das Ohr ist der Weg" gemacht, in denen er nachweist, dass der
optische Sinn in unserer Gesellschaft völlig
überbewertet und der Gehörssinn
völlig unterbewertet wird. Er führt dazu auch interessante
Untersuchungen an.
Es kommt noch etwas wesentliches hinzu: Menschen
sind es gewöhnt, gesehen zu werden. Sie achten deshalb darauf,
welche optischen Signale sie aussenden.
Auf die anderen Signale, die sie aussenden, achten
sie kaum oder nicht. Das fällt z.B. sehr deutlich auf, wenn
jemand nervös ist. Er mag sein Gesicht ruhig
halten, aber meist nicht seine Hände. Und auf
das, was er unbewusst mit seiner Stimme ausdrückt, hat er sowieso
nur wenig Einfluss, zumindest, solange
ihm das nicht bewusst ist.
Man könnte also argumentieren, dass es gerade
die Stärke blinder Psychologen, Pädagogen, Richter,
Schöffen usw. ist, dass sie diese Signale wahrnehmen,
beachten und auswerten. Wir sind nicht so leicht
"hinter's Licht zu führen" wie sehende Menschen
glauben.
Und damit kommen wir endlich zur Aufsicht und zur
Verantwortung: Ob ein Lehrer von seinen Schülern respektiert
wird, ist nicht eine Frage der Sehkraft.
Wie viele sehende Lehrer klagen darüber, dass
die Schüler heutzutage machen können, was sie wollen. Ich
weiß von einem Lehrer, dessen Unterricht unterbrochen
wurde, weil die Schüler sich Pizza bestellt
hatten. Dieser Lehrer war sehend. Sollen wir jetzt sagen, dass ein
Sehender ungeeignet für's Lehramt ist, weil
er solche Dinge nicht verhindern konnte?
Respekt erreicht man bei den Schülern dadurch,
dass man von ihnen anerkannt und akzeptiert werden kann und wird, und
dass sie wissen, dass negatives Verhalten Konsequenzen haben wird.
Und: Man muss ein gutes Verhältnis, geprägt von Akzeptanz,
mit ihnen aufbauen. Dass das auch blinden Menschen möglich ist,
wird in allen Lebenssituationen
bewiesen. In vielen Ländern, z.B. in Italien
und den USA, arbeiten seit Jahrzehnten blinde Lehrer an regulären
Schulen. Und es funktioniert! Die Lehrer
sagen den Schülern gleich zu Beginn, dass sie
blind sind und welche Spielregeln zu gelten haben. Sie achten darauf,
dass sie eingehalten werden. Wenn ein solcher
Lehrer ein Experte auf seinem Gebiet ist, wenn er
selbst seine Behinderung akzeptiert hat und sie glaubhaft als
"Nebensache" darstellen kann - und wenn
er auch mal nachweist, dass er merkt, wenn ihn
jemand hinter's Licht führen will - wird er die Kontrolle
über eine Gruppe haben, und somit sind Aufsicht
und Verantwortung gewährleistet.
Genau aus diesen Gründen konnte ich, als ich
noch bei der Arbeiterwohlfahrt gearbeitet habe, Kinder- und
Jugendgruppen beaufsichtigen. Dabei ist übrigens
aufgefallen, dass gerade "schwierige
Kinder" meine Nähe gesucht haben und plötzlich gar nicht
mehr so schwierig waren. Und genau aus diesen Gründen konnte ich
auch als Heimleiter an der Blinden- und Sehbehindertenschule in Lebach
mit blinden Schülern ohne sehende Begleitung
in der Großstadt Saarbrücken unterwegs
sein.
Viele Grüße,
Norbert
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