Der Hausrotschwanz

Da saß ich mit meiner Frau am 24. Mai 2001 auf unserem Balkon beim Frühstück. In etwa drei Stunden würde ich wegfahren: zum Seminar "Erkennen von Vogelstimmen", das das Deutsche Blindenbildungswerk in Bad Liebenzell im Nordschwarzwald durchführen wollte. Ich hatte mich schon immer dafür interessiert, Vögel am Gesang zu erkennen; also hatte ich mich angemeldet.

Einige Vögel kannte ich schon: Spatzen erkennt fast jeder. Die Amsel war mir vertraut, obwohl ich nicht wusste, wie ich sie von anderen Drosseln unterscheiden sollte. Auf einer Frühwanderung während meiner Schulzeit hatte mir mein Mathelehrer, Karl Britz, einige Vögel beigebracht; Im Gedächtnis geblieben waren mir aber nur der Buchfink und der Zilpzalp.

1999 hatte ich dann beim Sommerfest des Blinden- und Sehbehindertenvereins für das Saarland e. V. eine CD gewonnen, mit deren Hilfe man Vogelstimmen in Park und Garten identifizieren konnte. Fasziniert hatte ich sie gehört - aber meine Kenntnis der Vogelstimmen hatte nicht zugenommen.

Das sollte sich nun alles ändern. Ich freute mich schon sehr auf das Seminar und lauschte begeistert dem Vogelkonzert, das sich an diesem Morgen vielfältig bot.

Und da fiel mir ein seltsamer Vogel auf: Am ehesten hätte ich ihn für einen Fink gehalten, weil sein Zwitschern ähnlich klang. Aber da war mehr als nur ein Zwitschern: Es gab auch ein anderes Geräusch in seinem Lied: Ein krächzen oder Schlürfen. Nein, ein Fink konnte das nicht sein.

Also legte ich meine Vogelstimmen-CD auf und suchte nach diesem Vogel. Und siehe da: Er war unter den 25 Vögeln, die dort zu hören waren: Der Hausrotschwanz.

Ich kannte ihn bisher nur dem Namen nach. Besonders aufgefallen war er mir bis zu diesem Tag nicht.

Und nun hatte ich ihn selbst identifiziert. Sein Lied ist so einfach und so leicht zu erkennen - ich verstehe nicht, wie er mir jahrzehntelang nicht auffallen konnte.

Er beginnt mit einem Zwitschern, das wie ein Auftakt klingt. Dann kommt, oft nach einer kleinen Pause, das krächzende oder schlürfende Geräusch; und danach erfolgt sozusagen der Abgesang. Eindeutiger geht's wirklich kaum.

Wie alle Vögel, so singt natürlich auch der Hausrotschwanz nicht immer die komplette Strophe durch. Gelegentlich bleibt's beim Auftakt; aber den hat man schnell im Ohr und erkennt den Vogel auch dann, wenn er das Krächzen oder Schlürfen mal weg lässt. Meist setzt er kurz danach sowieso wieder an und gibt uns seine komplette Strophe.

Der Hausrotschwanz ist nach meinen Erfahrungen ab März bis in den Juli hinein zu hören. Er gehört zu den ersten Vögeln, die morgens ihren Gesang beginnen: Auftakt, Schlürfen, Abgesang.

Wie gesagt: Ich verstehe nicht, wie er für mich so lange unbemerkt bleiben konnte. 1973 in den Osterferien hatte ich mal morgens gegen 5:00 Uhr das Vogelkonzert hinter unserem Haus in Altenwald im Saarland aufgenommen. Als ich 2002 diese Kassette mal wieder ausgrub und anhörte, fiel mir mein Freund sofort auf: Deutlich war er herauszuhören. Wie oft haben seine Artgenossen mir wohl schon vorgesungen, ohne dass ich sie entdeckt habe?

Vielleicht liegt es daran, dass ich diesen Vogel so besonders mag. Er ist kein großer Sänger wie die Amsel oder die Singdrossel. Er schmettert sein Lied nicht so laut und so häufig wie der Buchfink, wird nicht so umschwärmt wie die Nachtigall und wird nicht in liedern besungen wie der Kuckuck. Er ist einfach da, Auftakt, Schlürfen, Abgesang und begeistert mich jedes Mal aufs Neue.

In diesem Jahr schien er mir seltener zu sein als in den letzten beiden Jahren. Zumindest in der Nähe unseres Hauses war er nicht so oft zu hören. Dafür gab es einen, der im Juni fast jeden Morgen kurz auf unseren Balkon kam, ein Paar Mal sein Lied erschallen ließ und dann wieder verschwunden war. Es war fast, als wollte er anerkennen: Hier wohnen zwei meiner größten Fans!


(Geschrieben am 6. Juli 2003)


Und hier gibt es den
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